Am 19. Juni 2013 erreichten der Ötztaler Kletterer Hansjörg Auer (29), sein Bruder Matthias Auer (31) und der Schweizer Simon Anthamatten (30) als erste Seilschaft überhaupt den Gipfel des 7.400 Meter hohen Kunyang Chhis East. Der schwierige Siebentausender, an dessen Südwestwand zahlreiche namhafte Alpinisten scheiterten, galt in der Bergsteigerszene als eines der „letzten großen ungelösten Probleme im Karakorum“. Entsprechend groß ist die Anerkennung, die den drei Bergsteigern innerhalb der Alpinszene für diese Erstbesteigung zuteil wird. Dabei begann die sechswöchige Expedition alles andere als erfolgversprechend.
Ein Interview mit Hansjörg Auer von Johanna Stöckl
Hansjörg, euch ist am Kunyang Chhis East eine Erstbesteigung gelungen. Kannst du das Gipfelerlebnis in Worte fassen?
Es war auf alle Fälle emotionaler als ich geglaubt hatte. Vorerst war alles wie immer. Ankommen, sich gegenseitig gratulieren, umarmen und so. Aber nach etwa 30 Sekunden haben wir alle geweint. Bei so einer Unternehmung unterdrückst du ja ständig deine Emotionen. Dann brechen sie plötzlich aus.
Warum muss man seine Emotionen ständig unterdrücken?
Bei so einer Tour kannst du nicht permanent sagen, was in dir vorgeht. Die Jammerei darüber, dass einem ständig kalt ist oder man im engen Zelt nicht schlafen kann, belastet das Team. Insofern behält man diese Gedanken besser für sich. Man meldet sich nur, wenn es einem ernsthaft schlecht geht, nicht aber wegen solcher Lappalien.
Zurück zum Gipfel. Wie fühlt sich das an, als erster Mensch dort zu stehen?
Für einen kurzen Moment dachte ich schon: „Wahnsinn, hier oben stand vor uns noch keiner.“ Du bist froh, dass es vorbei ist. Du genießt, dass du es geschafft hast und realisierst, wie gewaltig das jetzt ist.
Haben euch Bergsteiger aus aller Welt bereits gratuliert?
Ja, es melden sich viele. Aus der ganzen Welt. Wir haben schon für etwas Aufregung gesorgt. Die Bergsteigerszene ist verwundert, dass gerade uns das gelungen ist. Von Simon hat man in den letzten Jahren wenig gehört, weil er sein Haus umgebaut hat, viel als Bergführer gearbeitet hat und weniger in den Bergen war. Mich kennt man eher als Kletterer, weniger als Bergsteiger und meinen Bruder kennt man in der Szene gar nicht. Auch zu Hause im Ötztal werde ich plötzlich ständig angesprochen. Viele Leute gratulieren mir auf der Straße. Du kannst in den höchsten Schwierigkeitsgraden klettern, aber wenn du an einem wirklich hohen Berg einen Erfolg hast, können die Leute offensichtlich einfach mehr damit anfangen.
Muss ein gestandener Bergprofi eine Erstbesteigung in seinem Tourenbuch vorweisen können, um ein ganz Großer zu sein?
Darum geht es mir gar nicht. Bisher war ich zwar immer beim Klettern, aber noch nie an so einem hohen Berg unterwegs. Unser Vorhaben stellt die puristischste und reinste Form des Bergsteigens überhaupt dar. Wie im 19. Jahrhundert in den Alpen als die meisten Gipfel noch unbestiegen waren. Du stehst vor einem Berg und versuchst die leichteste Linie zu wählen um nach oben zu kommen.
Der „leichteste“ Weg klingt wenig heroisch.
(Lacht) Auf einem Siebentausender, der noch unbestiegen ist, ist auch der leichteste Weg richtig schwierig. Das wirklich Tolle an so einer Erstbesteigung ist: Du legst dir selbst keine Regeln auf. Du schränkst dich nicht ein, indem du eine besondere, eine schwierige Route klettern willst. Du suchst dir einen machbaren Weg vom Basecamp auf den Gipfel. That’s it. In meinen Augen ist das die coolste Form von Bergsteigen. Eine logische Linie am Kunyang Chhish East geht durch die Südwestwand.
Warum gerade dieser Berg?
Bei einem Bergfestival in Krakau unterhielt ich mich mit dem amerikanischen Alpinisten Steve House. Steve ermunterte mich, die Sache anzugehen. Er meinte, der Kunyang Chhish East gehöre nun endlich einmal abgehakt.
Eben dieser Steve House und sein Kollege Vince Anderson sind 2006 an diesem Berg gescheitert. Was habt ihr besser gemacht?
Steve und Vince waren damals nicht optimal akklimatisiert. Wobei, bis ca. 300 Meter unterhalb des Gipfels haben die beiden es geschafft. Sie sind vielleicht etwas zu direkt auf den Grat zugeklettert. Wir hingegen haben da etwas mehr ausgeholt und hatten dadurch einen besseren Überblick. Wir konnten das Gelände besser einsehen und im Gegensatz zu Steve und Vince eine schwierige Kletterei über einen Felsvorsprung vermeiden. Die beiden mussten an dieser Stelle aufgeben. Hundemüde, saukalt, schwieriges Terrain. Bei Projekten dieser Art ist der Spielraum zwischen Erfolg und Misserfolg sehr klein.
Wie viel Informationen hattet ihr vorab?
Wir haben ein paar Bilder von Steve House bekommen. Steve war im Herbst dort und erwähnte das viele Blankeis, weshalb wir bewusst im Frühjahr aufgebrochen sind. Dennoch gab auch bei uns sehr viel Blankeis. Richtig überrascht haben uns die schlechten Biwakmöglichkeiten. Du findest an diesem Berg keinen halbwegs ebenen Platz, an dem problemlos du dein Zelt aufstellen könntest. Es ist gelinde gesagt immer steil und damit auch immer anstrengend.
Der Kunyang Chhish East galt als eine der letzten alpinen Herausforderungen im Karakorum.
Es gab sechs, sieben Expeditionen, darunter welche von richtig guten Bergsteigern, innerhalb der letzten zehn Jahre, die sich dort versucht haben und gescheitert sind. Dann entsteht natürlich ein gewisser Hype innerhalb der Szene. So entstehen Sätze, wie „letztes großes Problem im Karakorum“. Aber es gibt noch etliche ungelöste Problemstellungen dort. Aber in der Kombination Schwierigkeit und Höhe war der Kunyang Chhish East sicher eines der letzten. Das ist schon richtig.
Kannst du einem Nicht-Berg-Profi die Schwierigkeiten erklären, die einen an diesem Berg erwarten?
Die Höhe, die Länge der Tour, überhaupt die Dimensionen. Wenn du etwa oben auf 7.000 Metern einen Sack Schnee ausleerst, wächst das unten zu einer riesigen Lawine an. Außerdem hast du bei einem Projekt mit 3000 Meter Höhenunterschied und hohen technischen Schwierigkeiten nicht überall die gleichen Bedingungen. Entweder ist es unten gut und oben schlecht oder umgekehrt. Das ist die eigentliche Crux. Du musst mit deinen Partner schon extrem gut harmonieren und richtig schnell sein.
Richtig schnell heißt?
Du musst in der Absicherung Kompromisse eingehen und viel am laufenden Seil gehen. Wer sich ein bisschen auskennt, weiß: Sobald du auf 7.000 Metern Camelots, also mobile Sicherungen, brauchst und mit Eisgeräten und Steigeisen im Fels klettern musst, ist das richtig schwer, mühsam, anstrengend und auch gefährlich. Außerdem kommt in so einer Dimension auch die psychische Komponente hinzu.
Biwakierst du auf einem der prominenten Achttausender, sitzen dort mindestens 50 andere Leute. Bei Scheißwetter ziehst du mehrere Paar Handschuhe und noch eine dicke Jacke an und – ich sag das jetzt überspitzt – wanderst über den Normalweg mit 20 anderen Bergsteigern runter. Ich will die Leistung der Achttausender-Bergsteiger nicht schmälern. Wenn jemand ohne Sauerstoff auf einen Achttausender geht, ist das sicher brutal. Aber unser Projekt war schon etwas ganz anderes. Du kannst, wenn es kritisch wird, nicht einfach absteigen. Du brauchst einen Partner beim Abseilen, du kannst nicht mehrere Lagen anziehen, denn du musst beim Klettern beweglich bleiben. Je weiter oben du bist, umso exponierter bist du.
Gab es Momente des Zweifelns?
Simon und ich hatten bereits zwei Versuche ohne Matthias gewagt. Mein Bruder hatte sich nämlich einen Tag vor der Abreise an der Hand verletzt und musste ins Krankenhaus. Er kam erst wesentlich später ins Basislager nach. Beim unserem ersten Versuch erreichten Simon und ich eine Höhe von ca. 7000 Metern. Der Gipfel war zum Greifen nahe. Dann kam ein abartiger Sturm, der in dieser Form nicht vorhergesagt war, auf. Die folgende Nacht auf 7000 Metern war richtig hart. Am Morgen danach hoffst du noch kurz auf Wetterbesserung. Du machst zweimal das Zelt auf, schaust raus, machst wieder zu und sagst dir: Geh da jetzt bloß nicht raus! Beim dritten Mal öffnest du dein Zelt und weißt, jetzt müssen wir da raus. Schnell abhauen, sonst überleben wir das nicht!
Was heißt in so einem Fall „schnell abhauen“?
Wir brauchten 14 Stunden bis ins Basecamp.
Wieso tut man sich das bloß an?
Das fragt man sich in einem so grauslichen Moment natürlich schon. Allerdings ist der Glücksmoment am Gipfel mindestens genau so intensiv. Du kriegst an so einem Berg alles zurück, was du vorher durchgemacht hast.
Zwei Söhne gemeinsam auf einer so schwierigen Expedition. Kann man das seinen Eltern antun?
Für unsere Mutter war es dieses Mal schlimm. Obwohl Mama gelernt hat unsere Leidenschaft zu akzeptieren. Sie weiß, dass sie uns nicht aufhalten kann. Unserer Mutter hilft ihr gesundes Gottvertrauen. Außerdem hofft sie, dass wir in so einer Konstellation nicht mehr aufbrechen.
Wie sieht so ein Abschied aus?
Wir zünden gemeinsam eine Kerze an. Meine Mutter sorgt dafür, dass die Flamme bis zu unserer Heimkehr nicht erlischt. Sie zündet also alle paar Tage eine neue Kerze an. (Lacht) Solange die Kerze brennt, brennen auch wir.
Wie lange ward ihr für den finalen Gipfelerfolg in der Wand?
Vom Basecamp zum Basecamp waren es sechs Tage und fünf Nächte. Eine Nacht verbrachten wir auf 5.900 Metern, eine weitere auf 6.600, zwei Nächte auf 6.700, weil wir auf Wetterbesserung warten mussten. Im Abstieg verbrachten wir dann erneut eine Nacht auf 6.700.
Wie darf man sich das Essenpaket für drei Männer, die Höchstleistungen bringen, für sechs Tage vorstellen?
Wir hatten Essen für drei Tage dabei. Die zwei Wartetage hatten wir ja so nicht eingeplant. Also Instantsuppe, Gummibärchen, Trockenfrüchte und Speck. Unsere angeschlagenen Mägen haben allerdings den stark gewürzten Speck nicht so gut vertragen. Die beiden letzten Tage habe ich fast gar nicht mehr gegessen. Am Ende der Expedition hatte jeder von uns gut sechs Kilo abgenommen.
Kann man eure Tour nach Schwierigkeitsgraden objektiv bewerten?
Viele Menschen fragen, wie schwer denn die Tour nun war. Sie wollen dann einen Schwierigkeitsgrad hören. Aber das ist Schwachsinn. Es ging darum den leichtesten Weg auf den Gipfel zu finden und das war schon schwer genug. Am besten wäre eine Einteilung in drei Klassen: leicht, mittel und schwer. Unsere Tour wäre dann in die letzte Kategorie gefallen.
Dein Bruder Matthias kam später dazu, hatte weniger Zeit sich zu akklimatisieren, stand trotzdem auf dem Gipfel. War er eine Hilfe im Team oder eine Belastung?
Für Matthias war es gut, dass Simon und ich vorher zweimal gescheitert sind. In dieser Zeit konnte er sich halbwegs akklimatisieren. Es war gut, dass er beim letzten Versuch dabei war. Zu dritt teilt sich das Risiko auf. Auch kannst du dich in der Vorstiegsarbeit abwechseln und den Materialtransport aufteilen. Aber es hat auch Nachteile. Wir waren ja bei unserem erfolgreichen Durchsteig zwei Tage auf 6.700 Metern aufgrund eines Jetstreams festgesessen. Da wird es dann schon verflucht eng im Zelt.
Jetstream? Wo findet man Schutz?
Wir hatten Gott sei Dank in einem Bergschrund einen Art Tunnel gefunden, in dem wir relativ geschützt unser Zelt aufstellen konnten.
Schreckliche Vorstellung!
(Lacht) Ja, man muss schon Vollgas motiviert sein, sonst kommt man da nicht hoch.