Steinschlag und Felssturz gehören zur Natur des Hochgebirges wie Gams und Steinbock, werden aber dort, wo sie mit Menschen oder Infrastrukturen zusammentreffen, zur Gefahr. Und außerdem scheint ihre Häufigkeit zuzunehmen, zumindest hört und liest man immer öfter davon. Hat das etwas mit dem Klimawandel zu tun? Oder sollte man bestimmte Wege meiden? Ein Versuch, die Sachlage nüchtern zu betrachten.
Beitrag von Gerhard Karl Lieb und Andreas Kellerer-Pirklbauer | veröffentlicht im bergauf Magazin 02.2020
Ausnahme oder neue Normalität in den Hochlagen der Alpen?
Im letzten Alpenvereinsjahrbuch (Berg 2020, S. 70–73) berichten die Wirtsleute der Rieserfernerhütte (2.791 m), im Südtiroler Teil der gleichnamigen Gebirgsgruppe, eindringlich von den Veränderungen der letzten 40 Jahre rund um „ihre“ Hütte. Die Gletscher haben archäologische Funde freigegeben, aber sich aus dem Weichbild der Hütte ziemlich entfernt: Auch den Sommer über vorhandene Schneefelder schmelzen schon früh im Jahr, der zur Trinkwasserversorgung genutzte See ist ausgelaufen (wenngleich in seiner Funktion durch eine neu entstandene Quelle ersetzt), der beliebteste Zugangsweg musste gesperrt werden und auf den anderen Wegen hat der Steinschlag zugenommen.
Gleich vorweg: Ähnliches gäbe es von zahlreichen Tourengebieten zu berichten – Veränderungen dieser Art sind vielerorts zu beobachten und bereiten Weg- und Hüttenerhaltern zunehmend Kopfzerbrechen. Oft sind es Sturzprozesse, durch die Personen unmittelbar gefährdet oder Weg- und Routenpassagen beschädigt, ja im Extremfall unbenutzbar werden können. Betrachtet man Sturzprozesse näher, so sind nach Größe (Magnitude) und Häufigkeit (Frequenz) drei Typen zu unterscheiden.
So etwa wurde von unserer Grazer Forschungsgruppe für die Gesäuseberge (Steiermark) aus bekannten Ereignissen abgeschätzt, dass Stürze mit einer Magnitude von ca. 10.000 m³ (das entspricht einem Würfel von 22m Seitenlänge) dort im Mittel etwa einmal im Jahrzehnt zu erwarten sind. Hierzu ist anzumerken, dass es über Stürze keine kontinuierlichen Aufzeichnungen gibt, sondern in der Regel nur jene Ereignisse dokumentiert sind, die große Schäden verursachen – so etwa im Gesäuse 2016 zuletzt die Zerstörung des (inzwischen wiedererrichteten) Zustiegs zum beliebten Peternpfad.
Daher sind auch alle Aussagen über die Zu- oder Abnahme der Frequenz von Stürzen unsicher. In den letzten Jahrzehnten ist die Sensibilität der Öffentlichkeit für Ereignisse dieser Art – aus gestiegenem Sicherheitsdenken oder medialer Sensationslust – größer geworden. Hinzu kommen Haftungsfragen und eine stärker ausgeprägte touristische Konsummentalität, die zu geringerer Akzeptanz von Schäden an Wegen beiträgt
Die Frage nach der Zunahme der Frequenz und Magnitude von Sturzereignissen wird häufig in Verbindung mit dem Klimawandel gestellt. Dabei ist zu bedenken, dass Stürze stets die vorangehende Lockerung des Gesteins voraussetzen. Für Steinschlag reicht hierfür der tages- bis jahreszeitliche Frostwechsel, der je nach Klüftigkeit des Gesteins dieses bis in wenige Dezimeter Tiefe auflockert. Bei Felsstürzen muss die Lockerung schon in mehrere Meter Tiefe reichen, etwa durch die Zirkulation von Wasser in Klüften oder das Ausschmelzenvon Permafrost-Eis, das wie Zement wirkt. Zu beachten ist dabei aber, dass „warmes“ Permafrost-Eis viel mobiler als „kaltes“ ist und somit auch die bloße Erwärmung des Permafrostes ein Felssturzereignis verursachen kann.
Meist kommen dazu noch andere Effekte – häufig etwa das Abschmelzen von Gletschereis, das zuvor den Fels stützte. Vom Klimawandel beeinflusst sind dabei zum einen die Erwärmung und das Ausschmelzen von Permafrost-Eis. Dieses ist in Höhenlagen oberhalb von im Mittel 2.500 m sehr weit – in Österreich auf rund 1.500–2.000 km² (die 5–6-fache-Fläche aller Gletscher Österreichs!) verbreitet und die langfristige Erhöhung der Untergrundtemperaturen durch Messreihen nachgewiesen. Dieser deutliche Erwärmungstrend über die letzten 12 Jahre ist beispielhaft für zwei Standorte in den Hohen (Pasterze) bzw. den Niederen Tauern (Hochreichart) in der untenstehenden Grafik erkennbar.
Zum anderen ist als Klimawandelfolge das Ausapern von Fels- und Schuttflanken aufgrund des rapiden Gletscherschwundes zu nennen, das zwar nicht auf so großen Flächen auftritt, aber tendenziell beliebte Bergwege auf „klassische“ Gipfel betrifft. So wiesen die dem aktuellen Gletscherbericht zugrunde liegenden Einzelberichte für 6 Gletscher 2019 auf verschlechterte Wegverhältnisse durch Sturzprozesse hin. In diesen Höhenlagen – gleichsam also am „Dach“ Österreichs – steigt durch die beiden Klimawandelfolgen Gletscherschwund und Erwärmung bis Ausschmelzen von Permafrost-Eis die Neigung (Disposition) zu Sturzprozessen also tatsächlich an. Jedoch handelt es sich in Bezug auf Wege und Routen stets um lokale Probleme, für die die Wegerhalter im Laufe der Zeit auch geeignete Maßnahmen entwickelt haben. Denn die gegenständlichen Prozesse gab es ja schon immer, wenngleich sich etwa der Gletscherschwund seit 1990 stark beschleunigt hat.
Da zuvor vom Gesäuse, dessen Gipfel unter der Stufe von Permafrost und Gletschern liegen, die Rede war, stellt sich schließlich noch die Frage, ob auch dort in einer sich erwärmenden Atmosphäre die Frequenz und Magnitude von Sturzprozessen zunehmen kann. Hierzu ist festzustellen, dass höhere Temperaturen allein keine Auswirkungen auf Stürze haben. Allerdings ist noch wenig über eine Veränderung der Frost-Tau-Zyklen, die die Verwitterung des Gesteins beeinflussen, bekannt. So zeigt sich beispielsweise in der Grafik für die beiden Standorte mit eindeutiger Temperaturerhöhung von 2007/08 bis 2018/19 kein klarer Trend bei der Zahl der Frostwechseltage. Vielmehr prägen starke Schwankungen die beiden Kurven. Dies ist durch lokale Geländebedingungen und mikroklimatische Besonderheiten (z. B. variable Schneedecke) zu erklären.
Ähnliches gilt für eine mögliche vermehrte (weil ganzjährige) Zirkulation von Wasser in Klüften. Jedenfalls aber neigt eine wärmere Atmosphäre zu mehr Extremereignissen in Form von Starkniederschlägen. Diese verursachen zwar keine Stürze, aber andere schwerkraftbedingte Massenbewegungen, insbesondere Muren. Diese kommen in allen Höhenstufen vor und sind daher wohl auch jener Prozess, der am häufigsten zur Beschädigung von Bergwegen führt.
Alles in allem kann festgehalten werden, dass der Schwund der Gletscher und die Veränderung des Permafrosts die Erhaltung der Wege in den Hochlagen zunehmend schwieriger machen – gerade auch dort, wo das in der Zeit seit der Errichtung der Wege (meist um die Wende 19./20. Jh.) noch nicht der Fall war, weil dort bisher noch Gletschereis lag bzw. der Permafrost für Stabilität sorgte. Auch in den tieferen Lagen bringt der Klimawandel keine Erleichterungen für die Erhaltung der Wege mit sich. Auch wenn die entstehenden Probleme mit dem vorhandenen Wissen lösbar sind, so wird die Erhaltung des Wegenetzes weiterhin eine große Herausforderung für die alpinen Vereine bleiben.