Ausgehend von einer riskanten und gescheiterten Skitour auf den Rührkübel im Salzburger Bergland, stellt der Soziologe Raimund Haindorfer die Frage, warum auf diese Tour von den damaligen Teilnehmer*innen heute freudig zurückgeblickt wird. Eine soziologische Auseinandersetzung über die Lust am Erlebnis am Beispiel des Skitourensports.
Ein Beitrag von Raimund Haindorfer | veröffentlicht im Bergauf Magazin 05.2020
Mit einer Seehöhe von 2.482 Metern erhebt sich der Rührkübel über dem Raurisertal. Mit seinen flach ansteigenden Almwiesen bis hin zu seinem luftigen Klettergrat bildet er das faszinierende Ziel unserer heutigen Skitour. Beim Gasthof Frohnwirt wird das Auto abgestellt, zu sechst machen meine Freund*innen und ich uns auf den Weg. Schon bald bäumt sich der imposante Gipfel des Rührkübels vor uns auf und wir machen einen ersten Halt, um uns zu stärken. Manche der Gruppe sehen kein Hindernis mehr auf dem Weg zum Gipfel, andere rufen in Erinnerung, dass Lawinenwarnstufe 3 herrscht. Die Frage, ob und wie es heute gelingt, den Rührkübel zu erobern, sowie die lauernde Lawinengefahr, bestimmen ab nun unsere Skitour. Wir sind nun seit circa drei Stunden unterwegs, haben den Gipfel bereits direkt vor Augen und müssten jetzt laut Skitourenführerbeschreibung (vgl. Jentzsch et al. 2011: 57) noch einen steileren Nordhang queren, um das Skidepot, und den Gipfelaufbau zu erreichen. Obwohl wir den Skitourenführer dabei haben, gestaltet sich die Orientierung schwierig, und plötzlich stellen wir fest, dass wir schon länger zu weit westlich aufgestiegen sind und den Nordhang nun nicht mehr gut erreichen können.
Aufgrund des teilweise aperen, rutschigen Geländes rund um den Gipfel sowie angesichts der erheblichen Lawinengefahr können wir uns in der Gruppe nicht auf einen gemeinsamen Weiterweg einigen. Ein Teil der Gruppe bleibt in sicherem Gelände zurück, während ein anderer Teil doch noch versucht, den Gipfel mehr oder weniger direkt zu erklettern. Dieser Versuch abseits der üblichen Route misslingt und führt zu heiklen Momenten: Indessen ich noch relativ leicht zu den anderen absteigen kann, kann sich ein bereits etwas höher hinaufgekletterter Teilnehmer nur mehr mit Müh und Not von einem Absturz retten. Seine Skischuhe geben auf dem steilen und rutschigen Untergrund nicht ausreichend Halt und es gibt auch keine Griffmöglichkeiten. Wir machen uns große Sorgen um ihn und versuchen, sinnvolle Ratschläge aus der Distanz zu geben. Nur mithilfe seiner Skistöcke, die er in das rutschige Grasgelände drückt, kann er sich schlussendlich den Weg zurück bahnen. Ein Sturz wäre hier wahrscheinlich nicht tödlich, aber doch mit mittleren bis schwereren Verletzungen ausgegangen. Wieder zusammen in der Gruppe folgen zum Teil hitzige Diskussionen über vermeintlich alternative Aufstiegsrouten und damit verbundene Risiken, alles unter zunehmendem Zeitdruck.
Solche Gruppendynamiken, welche die Soziologie sehr interessieren, werden in der alpinen Fachsprache schlicht unter dem Begriff Faktor Mensch zusammengefasst (Alpenverein). Nach einer Weile des Diskutierens siegt die Vernunft, die Mehrheit entscheidet sich für den Abstieg und wir gelangen unversehrt zurück.
Die Skitour auf den Rührkübel ist jedenfalls für die damaligen Teilnehmer*innen eine prägende Unternehmung gewesen. Das zeigt sich darin, dass auch etwa drei Jahre später, nachdem eine Vielzahl anderer Touren passiert sind, immer noch gerne über diese Tour gesprochen und sie als eine Vergleichsgröße für andere Touren herangezogen wird: „Wenn das nicht mal ein neuer Rührkübel wird“, wurde mir zum Beispiel erst kürzlich auf einen Tourenvorschlag von einem der damaligen Teilnehmer*innen geantwortet.
Um mich der Frage dieses Artikels zu nähern, erscheint mir die Zeitdiagnose des Soziologen Gerhard Schulze (1992) zur Gesellschaft Deutschlands besonders aufschlussreich, die ich annehme, auf das Nachbarland Österreich übertragen zu können. Schulze vertritt die These, dass wir in der Gegenwart in einer sogenannten Erlebnisgesellschaft leben, in der das „Projekt des schönen Lebens“ im Vordergrund steht: „Der kleinste gemeinsame Nenner von Lebensauffassungen in unserer Gesellschaft ist die Gestaltungsidee eines schönen, interessanten, subjektiv als lohnend empfundenen Lebens“ (Schulze 1992: 37). Die Erlebnisorientierung der Gesellschaft ist laut Schulze eine Folge der Modernisierung: „Der Weg von der Pauperismuskrise [Massenarmut] zur Sinnkrise lä[ss]t sich auch als Weg von der Überlebensorientierung zur Erlebnisorientierung beschreiben.“ (ebd.: 55). Erst in der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Wohlstandsgesellschaft konnte durch die Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse und der Vermehrung von Wahlmöglichkeiten (in Kleidung, Essen, Unterhaltung usf.), deren Gebrauchswertunterschiede fast immer bedeutungslos sind, die Erlebnisorientierung zur Selbstverständlichkeit werden. Kritisch muss erwähnt werden, dass damit auch ein Zwang entsteht, sein Leben erleben zu müssen (ebd.: 54ff), dem nicht alle Gesellschaftsmitglieder in gleicher Weise nachkommen können (z. B. durch Einkommensunterschiede) (vgl. Smudits et al. 2014: 107).
Erlebnisorientierung definiert Schulze als „das Streben nach psychophysischen Zuständen positiver Valenz, also nach Genu[ss]“ (Schulze 1992: 108). Körperliche und geistige Reaktionen werden dabei zu einer Einheit, welche der/die Erlebende als angenehm empfindet (ebd.: 105). Ja, diese Einheit aus Körper und Geist macht es vielleicht wirklich aus, warum uns das Skitourengehen so gut gefällt und uns so wichtig ist. Man ist in der freien Natur, atmet frische Luft, genießt die Ruhe und kommt durch das gleichmäßige Gehen in einen entspannenden Rhythmus. Diese angenehmen Momente gab es auch bei der damaligen Skitour.
Aber warum wird auf die damalige Skitour trotz der unangenehmen Situation vor dem Gipfel heute freudig zurückgeblickt? Ist es im Rückblick gar ein schönes Erlebnis? Schulze würde wahrscheinlich antworten, dass der Mensch über seine Ursprungserlebnisse (wie jenes beim Rührkübel) reflektiert, unter Ursprungserlebnissen versteht er nämlich zunächst unreflektierte Erlebnisse. Durch Erinnern, Erzählen, Interpretieren und Bewerten von Ursprungserlebnissen werden sie als Erlebnisse angeeignet, können sich dabei allerdings auch verändern (ebd.: 45). Gelingt es uns also, Ursprungserlebnisse als schöne Erlebnisse zu reflektieren, dann haben wir das Projekt des schönen Lebens verwirklicht (ebd.: 61).
Der Schlüssel zur Antwort auf die Frage dieses Beitrags liegt also darin, wie es der damaligen Gruppe gelungen ist, das eigentlich unangenehme Skitourenerlebnis Rührkübel als schönes Erlebnis zu deuten. Es fällt mir auch mit Blick auf die Überlegungen von Schulze schwer, darauf eine voll zufriedenstellende Antwort zu geben. Aber wahrscheinlich erinnern wir uns heute gerne an die Erleichterung zurück, dass sich niemand verletzt hat und es gut ausgegangen ist, und manche finden es heute noch lustig, dass ich beim Abstieg sehr genervt war, weil wir einen Rückzug gemacht haben. Und vielleicht sollten Sie, wenn Ihnen der Alltag einmal langweilig erscheint, sich ein Erlebnis aus ihrer Vergangenheit in Erinnerung rufen, ihren Freund*innen davon erzählen und die schönen Aspekte hervorstreichen, denn zumindest aus Sicht der Erlebnisgesellschaft scheinen schöne Erlebnisse der Sinn des Lebens zu sein.
Dr. Raimund Haindorfer ist Soziologe und Kultur- und Sozialanthropologe, wohnt in Wien, hält sich aber am Wochenende bevorzugt in den Bergen auf. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Migration, Integration, Arbeitsmarkt, Lebensqualität, Werte und Einstellungen. Kontakt: raimund.haindorfer@univie.ac.at
Zu weiteren soziologischen Alltagsbeobachtungen (wie zu Toilette, Sauna, Online-Dating, Theater, Fußballplatz etc.)
Haindorfer, Raimund/ Schlechter, Maria/ Seewann, Lena (Hg. alph.) (2019): Soziologische Momente im Alltag. Von der Sauna bis zur Kirchenbank. Wien/Hamburg: new academic press.
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