Schon wieder ein Artikel über „Stop or Go“ – Das Thema ist doch schon mehr als 15 Jahre alt. Falsch! „Stop or Go“ wird hier nur am Rande erwähnt, schließlich steht nicht Freerider 0815 oben am Hang, ungefähr 30 cm Neuschnee, etwas windverblasen, ca. 30 bis 35 Grad steil, ostseitig, der erste schöne Tag der Woche und – nun können wir noch was draufsetzen – seine drei Kumpels hinter ihm, sondern ich!
Endlich, nach mehreren Tagen Stahlkanten testen, freue ich mich auf die erste Line im Powder – nach Langem gibt es wieder tiefen Schnee! „Ist’s gefährlich?“, frage ich mich. „Da gibt es doch eine Regel, oder?“ – „Regeln, Regeln, überall Regeln“ – meine Gedanken kreisen. „Hmm, ich lass mir ungern was vorschreiben – doch halt, da war ja noch was, vor einigen Jahren hab’ ich mir doch auf so einem Freeride-Camp meine eigenen Regeln gemacht…“. Ich erinnere mich, drehe mich zu meinen Freunden um und wir schauen uns das gemeinsam an.
Akzeptanz vs. Vorschrift
Der individuelle Zugang zum Thema Risiko, die eigene, persönliche Strategie damit umzugehen und eine Entscheidung für sich selbst treffen zu können, ist eine der Stärken der risk’n’fun-Freerideausbildung. Wie in der Gedankenszenerie oben kurz umrissen, ist der zentrale Anspruch dieser Ausbildung die Erstellung einer eigenen Risikostrategie, welche den Erfahrungen nach auch voll und ganz akzeptiert wird. Jeder steht hinter seinem Werk und muss nicht etwas Vorgefertigtes, von außen Vorgetragenes annehmen. Gerade in der Snowboard- und Freerideszene steht die eigene Entscheidung, die Individualität hoch im Kurs - zumindest die gefühlte Individualität.
Die eigene Strategie
Was ist nun „die eigene Strategie“? Wie komme ich dazu? Während eines risk’n’fun- Freeridecamps - genauer gesagt dem Level 1 – der Trainingssession, wird die „Stop or Go“- Methode des Alpenvereins sehr wohl vorgestellt als eine mögliche Entscheidungsstrategie. Vorgestellt, nicht vorgetragen! -Als Bildergalerie an der Wand. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer schlendern allein oder in Grüppchen durch diese Vernissage, unterhalten sich über die Aufnahmen, diskutieren Situationen und holen sich fehlende Infos aktiv bei den Trainern und Trainerinnen, Bergführern und Bergführerinnen. Danach wird Unklares noch gemeinsam besprochen und – that’s it! Schon geht es weiter – am nächsten Abend bereits werden in Kleingruppen (vier bis maximal fünf Teilnehmer) Stifte gezückt, Papier und Bastelmaterial aufgelegt und los geht’s! Ziel des Abends ist ein gemeinsamer „Gruppenfahrplan“ für einen gelungenen Freeride-Tag. Auf einem Flipchart dargestellt, möglichst kreativ, mit einem Namen versehen, stellt jede Gruppe ihre Tagesstrategie vor, zusammengestellt aus den Erfahrungen und Beobachtungen der ersten beiden Tage, der Vernissage vom Vorabend („Stop or Go“ als Beispiel einer möglichen Risikostrategie) und den eigenen Ideen und Möglichkeiten des Umgangs mit Risiko. Und gibt damit schon mal in der Theorie eine Antwort auf die Frage, die sich jeder am Drop In stellt: „Stop or Go?“
Theorie allein ist nichts wert.
Testen, testen, testen – nur so ist sichergestellt, ob’s funktioniert. Unter diesem Motto laufen die letzen beiden Tage des Camps. Die in der Kleingruppe erarbeitete Risikostrategie wird aktiv im Gelände angewandt, Hänge werden beurteilt und gemeinsam wird eine Entscheidung getroffen. Manchmal kommt dabei schön heraus, dass das STOP mal sehr wesentlich ist, bzw. oft schon in ein „woanders GO“ umgewandelt werden muss.
Die Idee
Von der Ausbildungsidee her ist uns sehr wichtig, dass das „Stop“ einen Platz in den Köpfen und Bäuchen findet. Ist mal ein „Stop“ da, haben wir schon gewonnen. Welche Entscheidung dann weiters getroffen wird, ist nicht so wichtig (natürlich ist sie wichtig für jeden Einzelnen, schließlich geht es ja ums Leben), viel wesentlicher ist aber der Punkt, an dem ich stehenbleibe und mir bewusst wird, dass es jetzt eine Entscheidung zu treffen gilt. Damit gebe ich dem rationalen Denken wieder die Chance mitzureden in der Entscheidung und es bleibt nicht alles meinen Emotionen überlassen, welche an einem sonnigen Powderday vielleicht nicht alles Relevante wahrnehmen.
Der letzte Abend – Verdichten aufs Wesentliche
Was nehme ich mit von diesen Tagen? Was ist für MICH wichtig? Wie mache ich weiter? Wie will ich unterwegs sein? Antworten auf diese Fragen kann am letzten Abend jeder und jede für sich auf der sogenannten „Powder Check Card“ zusammenfassen und für sich mitnehmen. Die Gruppenstrategien werden gemeinsam in den Kleingruppen nochmals reflektiert; und danach verdichtet (hier steckt auch das Wort „dichten“ drin) jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer die Infos von allen Tage auf eine kleine Karte – die eigene Risikostrategie im Scheckkartenformat. Ähnlich wie ein kleiner „Schwindelzettel“ in der Schule – was da oben steht, ist dermaßen verinnerlicht, dass das Stück Papier nicht mehr nötig ist…
Jahre später…
Und diese Strategie kann ich mir dann, und sei es Jahre später, wieder herholen, mich daran erinnern und mit meinen Kumpels austauschen, wenn wir gemeinsam oben am Hang stehen, hinunterblicken, den frischen Schnee wahrnehmen, die Hangneigung beurteilen und uns überlegen: „Was macht das alles mit uns? Wie sind wir heute drauf? Was ist im Falle, wenn?“ Wir sehen wie lang der Hang ist, wir sehen die Geländeformation, wir besprechen Alternativen. Nach kurzer Beratung genießen wir unsere Line – schließlich war für uns klar: „STOP – wahrnehmen – beurteilen – entscheiden AND GO!“
Autoreninfo:
Dipl.Ing. Axel Tratter, seit 2006 Mitglied im risk-n-fun-Bergführerteam ist ehrenamtlicher Ausbildungsleiter der Alpenvereinsjugend und lebt als Staatlich geprüfter Berg- und Skiführer, Ernährungsberater nach Trad. Chin. Medizin und Shiatsu-Praktiker mit seiner Familie in Graz.