Der entfernte Ton einer Sirene reißt mich aus meinen Tagträumen.
„Aha“, denke ich mir, „die vom Lagerhaus dürfen jetzt also endlich nach
Hause gehen in die warme Stube.“ Ganz im Gegenteil zu den Mitarbeitern
vom Lagerhaus ist unser Weg in die nächste warme Stube noch ein ziemlich
langer. „Uns“ das sind mein guter Freund Ehsan, seines Zeichens
iranischer Spitzenalpinist und Koch in der Gmundnerhütte am Traunstein
und ich, ehemals motivierter Alpinkletterer und Sozialpädagoge mit
offensichtlich zu viel Freizeit. Wir befinden uns gerade am Südostgrat
des Grimmings. Eine Kletterroute im 2. Schwierigkeitsgrad und
fantastischer Aussicht. Im Sommer die genussvolle,lohnende Alternative
zum südseitigen Normalweg über das Multereck. Wir haben uns dafür aber
den bis dato kältesten Tag des Jahres ausgesucht. Es ist Samstag der 13.
Februar 2021, 12 Uhr. Beim Abmarsch vom Parkplatz um 6:30 zeigte das
Thermometer frostige -16 Grad. Die bis zu 40km/h starken Windböen
am Grat machen es trotz wolkenlosem Sonnenschein auch nicht wärmer.
Mittlerweile befinden wir uns ca. 200hm unterhalb des Gipfels. Vor mir
im Schnee bewegt sich zaghaft ein dünnes gelbes Seil. Ich folge der
Schnur mit den Augen. An dessen Ende etwa 20m entfernt erblicke
ich das mir bereits so gut bekannte freudige persische Grinsen von
Ehsan. Mit seinen Worten „Kommst du hier!“, setze ich mich langsam in
Bewegung...das Jo-Jo bewegt sich wieder...Doch alles der Reihe nach. In
den Tagen vor der Tour waren unsere gemeinsamen Pläne nicht gerade von
Erfolg gekrönt. Ein Vorhaben am Bosruck scheiterte bereits vor
dem wirklichen Start weil Ehsan seinen Wecker um eineStunde falsch
eingestellt hatte. Am folgenden Tag musste ich absagen,weil ich
mich nicht fit fühlte.
Ehsan kletterte an dem Tag dann alleine die Phyrgasüberschreitung. Und das bei absolut schlechten Schneebedingungen. Ich kenne die Tour nur vom Sommer. Als ich im Juli dort herumkraxelte und über Ehsans Idee einerWinterbegehung nachdachte verursachte diesÜbelkeit. Ich kämpfte mich dann an dem Tagals mein Freund am Phyrgas warauf den Traunstein und fühlte mich miserabel. Meine Bergtouren in den letzten Wochen und Monaten waren nicht gerade von der anspruchsvollen Sorte. Generell war ich verhältnismäßig nur wenig unterwegs. Mein Selbstvertrauen für wirklich schwierige alpinistische Unternehmungen war somit äußerst gering.
Ehsan und ich planten aber weitergemeinsam und so ergab es sich, dass wir nach kurzer Diskussion per SMS den Grimming Südostgrat ins Auge fassten. Dass es an dem geplanten Tag kalt werden würde war uns beiden klar. Gerade deshalb und aufgrundder vorangegangenen hohen Temperaturen erhofften wir uns gute Schneebedingungen für das Klettern mit Steigeisen und Eisgeräten. Für mich klang das dann nach einem machbaren Programm in meiner aktuellen Verfassung. Ich war bisher einmal am Grimming. Damals über den nordseitigen Normalweg rauf und denSüdseitigen runter. Ein nordseitiger Versuch im Winter scheiterte an der Schlusswand. Doch von Internetrecherchenherwusste ich, dass man nordseitig im Winter rauf kommt. Ich vermutete, dass es also theoretisch runter auch irgendwie gehen müsste. Über den südseitigen Normalweg glaubteichzu wissen, dass dieser im Winteran einer Stellewegen hoher Lawinengefahr eher heikel ist und schloss ihn daher für einen möglichen Abstieg aus. Aufgrund unserer südseitigen Ausgangslage planten wir also auch wieder über den Südostgrat abzusteigen. Ehsan und ich telefonierten kurz um die Details abzuklären. Er sprach von einem 30m Halbseil. Ich von einem Zweiten damit wir gegebenenfalls über eine größere Strecke abseilen könnten. Ansonsten packten wir noch Gurt, etwas Material zum Absichern bzw. für einen etwaigen Rückzug, Eisgeräte, Steigeisen und Helm ein.Am Freitag musste ich noch bis 20.30 arbeiten. Danach schnell heim, Sachen packen, Frühstück vorbereiten, Wecker auf 4 Uhr gestellt und um 23 Uhr ins Bett. Samstags lief dann dank der guten Vorbereitungen alles wie am Schnürchen. Mir kam die glorreiche Idee, dass ich mir vielleicht noch schnell das Topo der geplanten Tour ansehen sollte. Da ich noch nie dort war könnte sich das als möglicherweise hilfreich erweisen dachte ich mir. Also kurz auf Bergfex das PDF geöffnet, die Beschreibung gelesen und ein paar Fotos durchgeklickt. Sieht eigentlich alles ganz brauchbar aus. Ausgesetztheit konnte ich keine dramatische erkennen. Irgendwas von „leichte Tour“, „Platten“, „Schlüsselstelle Kamin mit Klemmblock“ ist hängengeblieben. In meiner Vorstellung lag darauf pickelharter Schnee und so wurde in meiner Fantasie alles zu einem anspruchsvollen Spaziergang mit Seil.Um 5 Uhr saßen wir schon zu zweit im Auto auf dem Weg nach Niederstuttern zum Ausgangspunkt unserer Tour. Mit an Bord genügend Kaffee und ein großer Berg an Motivation. Aufgrund meiner „Recherchen“ war ich äußerst zuversichtlich was den Erfolg des Projekts anbelangte. Die Fahrt verflog genauso schnell wie der Weg bis zur Grimminghütte. Die Bedingungen im Zustieg waren perfekt. Der Schnee war von perfekter Härte, was äußerst vorteilhaft für unser Vorankommen war. Bei einem Versuch letzten Winter benötigte Ehsan gemeinsam mit zwei Freunden für die ca. 200hm von der Hüttebis zur Leiter die einen fast bis zum Grimmingbründl bringt,aufgrund der schlechten Bedingungen,gut 2 Stunden. Heute waren wir in nicht mal 2 Stunden vom Auto weg bereits beim Bründl selbst. Hier durften wir auch einen wunderbaren Sonnenaufgang beobachten. Der Himmel war wolkenlos und selbst die Kälte hielt sich in Grenzen. Unser Selbstvertrauen wuchs mit jedem Schritt. Zumindest bis zu jenem Punkt als wir das erste Mal das Karplateau der Schneegrube betraten...Den gesamten Eindruck in Worte zu fassen fällt äußerst schwer. Hätte mir aber in dem Moment jemand erklärt, dass wir uns gerade mitten im Himalaya befinden dann hätte5ich es genauso geglaubt. Ehsans Kommentar zu der ganzen Szenerie: „Geiler Scheiß!“. Meinerseits kam nicht mehr sehr viel...
Unser Blick glitt über imposante,furchterregende Wände. Überall war Schnee und Eis und ständig donnerten riesige Spindrifts von weit oben aus den Wänden ins Kar. Vor allem im Bereich des Sommernormalwegs ging es wild zu. Ein Abstieg über diesen Steig war somit definitiv absolut unmöglich. Uns schlug plötzlich frostiger Wind entgegen der das Ambiente noch ernster wirken ließ. Direkt unterhalb des Gipfels erkannte man eine riesige Wechte die bedrohlich über der Wand hing. Linkerseits des Kars konntenwir auch das erste Mal an diesem Tag einen Blick auf unser eigentliches Ziel erhaschen.Der SO-Grat windet sich dort eindrucksvolldirekt vom Gipfel weg in die Tiefe und endet mit einer über 100m hohen Plattenrampe im Kar. Weniger förderlich für unser Selbstvertrauen in dem Moment waren die langen Schneefahnen die sich vom Grat weg Richtung Westen aufbauten. Es sah stürmisch aus und die Vorstellung jetzt da oben zu stehen ließ mich erschaudern. Ich hatte nicht den Eindruck alswäreeine Gratkletterei bei dem Wind gepaart mit den heutigen Temperaturen und dem ganzen Schnee eine kluge Idee bzw. konnte ich mir nicht vorstellen,dass es überhaupt möglich sein würde dort zu klettern. Ehsan sah das anscheinend nicht so,denn er stapfte unbeirrt weiter Richtung Fuß der Plattenrampe.Dort angekommen legten wir in weiser Voraussicht bereits unser gesamtes Material an. Der Wind am Grat hätte dies zu einem ziemlich ungemütlichen Vorhaben gemacht. Bereits nach wenigen Minuten ohne Bewegung begannen unsere Zehen und Fingerauszukühlen. Dieser Umstand sollte sich die kommenden Stunden kaum ändern. Ich begann dann die Rampe hinauf zu stapfen wobei mich Ehsan nach kurzer Zeit ablöste um bessere Fotos machen zu können.Ab der Rampe änderte sich leider auch die Schneequalität beträchtlich. Aus dem perfekt gefrorenen Untergrund wurde eine tiefe Triebschneepackung. Die Steilheit der Rampe und die labile Oberschicht erzeugten ein mulmiges Gefühl. Wir hatten aber Glück und lösten keine Lawine aus.
Am Grat änderte sich die Situation dann wie erwartet schlagartig. Starke Windböen erschwerten uns die Kommunikation und die freien Hautstellen im Gesicht beschwerten sich mit einem Brennen und Stechen. Innerhalb von Sekunden war es gefühlt nochmals um 10 Grad kälter. Was mir jedoch am meisten Sorgen bereitete war der Blick auf unseren Weiterweg auch wenn dieser nur wenige Meter bis zum ersten Gratzacken reichte. Rechts gab es kein vorbeikommen. Gerade drüber zu schwer. Links fiel eine Wand ein paar hundert Meter ins Tal ab. Es schien aber soalskönnte eine Schneerampe hier ein Weiterklettern ermöglichen...zumindest für Ehsan schien es so. Ich dachte im ersten Moment: "Das war‘s. Endstation. Drehen wir um." Ehsan packte entgegen meiner Gedanken das Seil aus und begann sich einzubinden. Ich fragte mich währenddessen wie ich ihn denn nun sichern sollte. Von einem soliden Stand keine Spur. Was ich außerdem bemerkte war, dass es offensichtlich bei der Planung ein Missverständnis in der Kommunikation gab. Wir hatten scheinbar nur ein 30m Halbseil mit, da Ehsan sich nur in meines einband. „Aha“, dachte ich mir, „interessant. Aber naja...hilft jetzt eh nix mehr.“ Ohne genauer darauf einzugehen akzeptierte ich es mal so. Auch wenn mir bewusst war, dass sich dadurch ein etwaiger Rückzug äußerst schwierig gestalten könnte. Auch das Standplatzproblem war rasch gelöst. „Schau hier. Nimmst du deinen Pickel und steckst du ihn in den Schnee. Kannst du so oder so oder so machen. Einfach irgendwie. Haha.“, kam unbekümmert von Seiten meines persischen Freundes. „Aja...ich erinnere mich wieder. So war das. Aber meint er das ernst? Das hält doch niemals!!?!?!“, waren meine Gedanken dazu. Ich konnte aber gar nicht so schnell schauen war Ehsan auch schon am Weg. „Nicht übertreiben Ehsan OK!? Das muss nicht sein!“, gab ich ihm noch mit auf den Weg. „Ja, passt!“, kam zurück. Die Schneequalität schien ganz brauchbar zu sein. In wenigen Minuten war er schon um die Ecke im gegenüberliegenden Sattel und sicherte mich nach. Die ersten Meter waren etwas ungewohnt doch der bekannte Rhythmus war schnell wiedergefunden. Die enorme Ausgesetztheit, der Wind und das Wissen über die Standplatzqualität trugen aber ihren Teil dazu bei, dass es psychisch trotzdem bereits von Beginn der Kletterei an enorm fordernd war.
Das nun Folgende zählt im Nachhinein gesehen zu den kältesten und mental anspruchsvollsten Erfahrungen meines Lebens. Es dauerte nur kurze Zeit und aus dem erdachten „anspruchsvollen Spaziergang“ wurde ein äußerst ernstes,alpines Unterfangen. Nach nur wenigen Seillängen erkannten wir, dass der geplante Abstieg über dieselbe Route höchst lebensgefährlich wäre. Als einziger Ausweg erschien somit eine Flucht nach Norden. Wobei ich diesbezüglich von der Sommertour wusste, dass auch hier die ersten paar hundert Höhenmeter durch sehr steiles Felsgelände führen würden. Die Tour wäre also am Gipfel noch lange nicht vorbei.
Zu diesem Zeitpunkt lag dieses Problem jedoch noch irrsinnig weit entfernt. Zwischen uns und dem Abstieg lagen nämlich noch unzählige steile Klettermeter in Schnee undFels. Den berühmten „Point of No Return“ hatten wir sehr bald überschritten. Der einzige Weg nach unten führte somit nur mehr nach oben. Nach jedem gekletterten Aufschwung erhoffte ich mir den Gipfel näher. Doch jedes Mal schien er sich kein Stückchen bewegt zu haben. Der Ostwind pfiff uns stetig erbarmungslos um die Ohren, sodass man an den Standplätzen innerhalb von wenigen Minuten zu zittern begann. Vereisungen bildeten sich im Bart und an den Augenbrauen. Teilweise dachte ich mir meine Wangen sind bereits abgefroren. Von meinen Zehen gar nicht zu sprechen,die spürte ich schon lange nichtmehr. Zumindest lagen wir anfangs noch gut in der Zeit. Als dann aber der Ton der Sirene vom Tal herauf drang machte ich mir das erste,jedoch nicht das letzte,Mal an diesem Tag darüber Gedanken was zur Hölle ich/wir hier eigentlich machen. Wir sind langsam, der Gipfel ist noch verdammt weit entfernt, es gibt praktisch keine einzige vernünftige Absicherung, wir befinden uns in ständiger Lebensgefahr, sind mit einem Seil verbunden und würden vermutlich beide abstürzen wenn einer stürzt. Wäre es nicht einfach besser an diesem Punkt abzubrechen und die Bergrettung zu alarmieren? Könnten uns die überhaupt hier retten? Könnte uns ein Hubschrauber bei dem Wind aus der Wandholen? Sollen wir in der Biwakschachtel übernachten? Was liegt da wohl noch vor uns? Kommen wir bei den Bedingungen nordseitig runter? Gedanken wie diese begleiteten mich in den Momenten in denen ich still stand, das Seil ausgab und Ehsan beim Klettern beobachtete.
Meistens war er es der voran kletterte. Ganz ohne groß
darüber zu sprechen habe ich den Großteil der Verantwortung an ihn
abgetreten. Und er hat sie bereitwillig angenommen.Während des
Kletterns ließ der Kopf aber keine solchen Gedanken zu. Ichwar
so fokussiert wie es nur ging und gab mein Bestes. Eingeschneite
Felsstufen von bis zu 30m Höhe versperrten uns den Weg. Vom
Sommerweg war keine Spur. Fast immer kletterten wir die
direkte Linie. Der Schnee war dabei meist von minderer
Qualität. Zumindest was das Klettern betrifft. Tiefer,lockerer
Schnee, nur selten zu einer kompakten Masse gefroren in denen
die Steigeisen und Eisgeräte halt fanden. Für den
Vorsteiger war es schon nicht leicht in so einem Gelände vorwärts zu
kommen. Der Nachsteiger hatte noch viel mehr zu kämpfen,weil der
ohnehin haltlose Schnee immer wieder weg brach und man so kein Stück
vorwärts kam. Der Profi aus dem Iran vollbrachte dabei Leistungen welche
selbst im Nachhinein noch unglaublich erscheinen. Ich durfte
Zeuge werdenvon absoluter Meisterklasse im Winterklettern. Noch
nie war ich so anspruchsvolle Seillängen im Schnee geklettert. Ehsan
kletterte immer die vollen 30m aus. Dabei gab es niemals eine
Zwischensicherung und über die Haltbarkeit eines,ein paar cm
eingegrabenen Pickels im lockeren Schnee braucht man nicht mal
diskutieren. Das Seil war rein zur mentalen Unterstützung. Ein Sturz
hätte mit absoluter Sicherheit fatale Folgen nach sich gezogen.Zum Glück
folgte nach solchen Felsstufen immer wieder eine leichtere Passage in
der wir nur im Schnee stapfen mussten. Das waren die Momente
in der sich der Kopf wieder entspannen durfte. Das Jo-Jo
bewegte sich wieder in die andere Richtung.
Aber genau dieses auf und ab, von absoluter Anspannung und Kampf hin zu Entspannungund der Hoffnung es nun bald geschafft zu haben, machten die Tour so verdammt anstrengend. Wir wühlten uns durch teils patagonische Verhältnisse immer weiter aufwärts. Die Tiefblicke wurden immer spektakulärer. Das Ambiente insgesamt unbeschreiblich. Wir waren in einem höllischen Paradies. Wobei ich davon nur mehr wenig registrierte...Endlich, kurz nach 2 Uhr nachmittags, führte ich uns in einer letzten schwierigen Seillänge auf den Gipfel. Die Verankerung des Kreuzes diente als erste vertrauenswürdige Sicherung. Ich klippte das Seil in den Karabiner und fühlte mich unendlich erleichtert. Nichtmehr in Lebensgefahr! Wie wunderbar! Kurze Zeit später war auch schon Ehsan bei mir. Wir fielen uns lange in die Arme indem Bewusstsein gerade großes vollbracht zu haben. Gleichzeitig wussten wir, wie unendlich dumm wir waren und welchriesen Glück wir bis hierher eigentlich hatten.Nach den obligatorischen Gipfelfotos und kurzem Rundumblick machten wir uns sofort auf den Weg zur Biwakschachtel,die wenige Höhenmeter unterhalb des Gipfels in einer Senke steht. Am Gipfel selbst war es einfach zu unwirtlich. Der andauernde Eiswind zehrtean den Nerven. In der Senke war es zum Glück windstill. Hunger verspürten wir beide keinen doch wir wussten,wirmüssen Energie tanken. Bis hierher waren über 6 Stunden seit unserem Aufbruch vom Auto vergangen. Gut 1700hm lagen hinter uns. Wir hatten beide bisher einen Müsliriegel gegessen und ca. einen halben Liter getrunken. Viel zu wenig für diese Anstrengungen. Die Sonne und Ruhe waren zusätzlich gut fürs Gemüt. Der Eingang zur Biwakschachtel war eingeschneit doch war es im Freien dank der Sonne warm genug um zu rasten. Selbst unsere Extremitäten erwärmten sich wieder und das Gefühl in den Zehen kehrte halbwegs zurück. Wir sortiertenunsere Ausrüstung neu und ich klärte Ehsan über den Abstieg auf. Nach ca. einer halben Stunde machten wir uns wieder auf den Weg. Mittlerweile war es bereits 15 Uhr. Dies bedeutete noch ungefähr 3 Stunden Tageslicht. „In dieser Zeit müssen wir es einfach raus aus den gröbsten Schwierigkeiten schaffen.
Das ist ja nicht sooo weit. Vielleicht 600hm bis hinunter ins Kar.
Wenn überhaupt. Der Rest ist dann egal. Da kann es stockfinster sein und
wir schaffen es“, dachte ich mir.Aber wie erwartet gestaltete sich auch
der Abstieg als ungemein herausfordernd. Nur ganz selten
erblickten wir eine Markierung. Mein Freund hatte ohnehin keine
Ahnung wo genau es hinunter geht und meine verblassten
Ortskenntnisse waren ebenfalls nicht hilfreich. Alleswirkte
ähnlich. Unzählige steile eingeschneite Rinnen führten nach
unten. Von Beginn an mussten wir rückwärts abklettern. Hier den
richtigen Weg zu finden war ein Glücksspiel. Wir wählten unseren Weg
nur nach Gefühl. Mehrmals endete ein Versuch über
einerunüberwindbaren Felswand und wir mussten wieder zurück.
Zumindest hier war der Schnee großteils kompakt was uns das
Abklettern enorm erleichterte. Natürlich waren auch Lawinen ein Thema.
Mehr als einmal hatte ich ein ungutes Gefühl im Magen als ich mittenin
einer Rinne eine im Schnee verborgene Schwachschichtzu entdecken
glaubte. Abermals erwischte mich der Jo-Jo Effekt.
Der andauernde
Wechsel zwischen dem Gefühl der Sicherheit,weil das Schneefeld gerade
nicht soooo steil war welches wir absteigen mussten und der
absoluten Unsicherheit weil darauf wieder eine heiklere Passage
folgte sowie das immer fahler werdende Sonnenlicht erwiesen sich
als enorm anstrengend für den Kopf. Irgendwann fragte ich mich,wann
denn der letztmögliche Zeitpunkt für die Aktivierung der Rettungskette
sei in der wir auch noch ausgeflogen werden könnten. Ein Biwak in
dieser Wand würde definitiv zu einem Kampf um die Gesundheit
werden. Vor allem um Finger und Zehen hatte ich Angst. Mit
dem 12schwindenden Sonnenlicht sanken auch die Temperaturen wieder
empfindlich. Doch zumindest waren wir nordseitig vor dem Wind geschützt.
Als wir im untersten Drittel der Steilstufe angelangten kam Ehsan zum
Glück der Gedanke, dass er ja sein Handy zu Rate ziehen könnte damit
wir den Abstiegsweg finden. Ich bin eigentlich kein sonderlich
großer Fan von Digitaltechnik am Berg doch in diesem Moment war dies das
Beste was uns passieren konnte. Wir hatten nun endlich
zumindest eine grobe Ahnung wo wir uns befanden. Der weitere
Abstieg gestaltete sich dadurch um ein vielfaches leichter,weil
wir zu dem Zeitpunkt bereits doch deutlich vom Weg abgekommen
waren. Ganz ohne Verhauer schafften wir zwar den Rest bis hinunter ins
einfache Gelände dann auch nicht doch zumindest erreichten wir
den sicheren Boden nochbeim letzten Tageslicht. Eine letzte 40 Grad
steile Rinne und eine kleine Felsstufe später standen wir im rettenden
Kar unterhalb der größten Schwierigkeiten. Dieses Gefühl der
Erleichterung werde ich lange nicht vergessen. Endlich konnten wir
durchatmen.Endlich mussten wir nicht mehr rückwärts über steile
Schneefelder abklettern. Endlich mussten wir nicht mehr ums
Leben fürchten. Erneut fielen wir uns in die Arme. Zweieinhalb
Stunden waren wir bereits unterwegs seit der Biwakschachtel.
Die Zeit braucht man normal bis hinunter nach Tauplitz. Und es waren
nur 400hm wie sich herausstellte! Ein breites Grinsen und „Oida! Es
war komplett übertrieben!“, mehr brachten wir aus unseren
eingefrorenen Gesichtern nicht heraus.
Der Rest war nur mehr Kür. Auch das Wissen, dass sich unser Auto auf der anderen Seite des Berges befindet,konnte unsere Stimmung nicht mehr trüben. Jetzt war alles egal. Wir waren in Sicherheit. Irgendwie kommen wir schon wieder zurück. Schnell erreichten wir die Seile die uns über eine weitere Felsstufe hinab leiteten. Währenddessen wurde es finster. Kein Thema mehr. Stirnlampe auf, Licht an und immer weiter. Benommen und lachend stolperten wir ins Tal. Unten angekommen läutete ich an der ersten Tür hinter der ich Licht erkannte. Das ältere Ehepaar welches uns vom Balkon aus skeptisch beäugte lachte nur als wir ihnen unsere Lage schilderten. „Haha a Taxi woits? Des werds bei uns net findn. Wir san do am Lond. Do gibts kane Taxis! Oba mei liawa es seids scho 2 verwegene Burschen. Wissds wos? I fia eich gach ummi.“ Und so blieb uns das Glück bis zum Schluss hold!
Nachtrag vom 20.2.2021:Es stellte sich heraus, dass Ehsan doch auch ein Seil mithatte. Dies fand jedoch nie den Weg aus seinem Rucksack.Die Spitzen 5 meiner Zehen sind nach wievor taub aufgrund der leichten Erfrierungen.
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