Bericht: Patrick Hubmann
Der Ortler (3.905m) ist eine der höchsten Erhebungen der
Ostalpen, auf jeden Fall aber von allen Seiten ein äußerst beeindruckender und
vielseitiger Berg. Eine echte Majestät eben. Seine wohl beeindruckendste und
gleichzeitig auch abweisendste Seite ist aber die vereiste Nordwand. Sie ist
mit 1300m Wandhöhe die höchste Eiswand der Ostalpen. Auch wir (mein
langjähriger Bergkamerad Wolfgang „Ös“ Schweiger und ich) konnten uns diesem
Nimbus nicht ganz entziehen, obwohl wir immer leichte Bedenken hatten, da die
Wand objektiv leider nicht ganz ungefährlich ist. Schon im Dezember 2015 sind
wir nach unserer Winter-Hintergratüberschreitung andächtig an den Gedenktafeln
unterhalb der Tabarettahütte vorbeigegangen und haben ehrfürchtig und mit leichtem
Gruseln in den riesigen Schlund aus Fels und Eis geblickt. Damals schien die
Vorstellung diese Wand zu durchsteigen weiter entfernt als der Mond.
Die Wand ist sehr stark dem Stein- und Eisschlag ausgesetzt. Das Hauptproblem bilden dabei die riesigen Seracs des oberen Ortlerferners, welche die Ansicht des Ortlers von Norden entscheidend prägen und auch vom Normalweg aus gut zu bestaunen sind. Hier kommt es durch die Gletscherbewegung immer wieder zu völlig unvorhersehbaren Abbrüchen und blöderweise befindet sich der untere Teil der Nordwandroute tausend Meter tiefer genau im Einzugsbereich des Eisschlags.
Der Bergsteiger kann zur Risikominimierung nur auf möglichst gute Verhältnisse (kalte und klare Nacht, harter Trittschnee um schnell voranzukommen) achten und versuchen den unteren Teil der Wand so schnell als möglich hinter sich zu lassen.
Nach längerem Verfolgen der Verhältnisse und anderen Begehungen war es für uns am 29.03.2019 soweit. Freitag nachmittags nach der Arbeit fahren wir über den Reschenpass nach Sulden. Nach kurzem optischen Erkunden der Route wird schon deutlich, dass die Verhältnisse grundsätzlich gut sind, die Wand sich jedoch extrem blank für diese Jahreszeit präsentiert. Lediglich am rechten Rand gibt es einen schmalen Streifen weißes Eis, das sich gut zum Klettern eignen sollte. Nach einem gemütlichen Pizzeriabesuch geht es früh in unser Schlafgemach: das Auto vom Wolfgang am Ortsrand von Sulden (1860m).
Um drei Uhr ist Tagwache und routiniert geht es los. Ungefähr eineinhalb Stunden gehen wir in der Dunkelheit mit den Tourenskiern die etwa 700 Höhenmeter zum Einstieg. Das Gelände wird zunehmend steiler und da der Schnee auch sehr hart ist, können wir schon bald die Schi auf den Rucksack packen und die Steigeisen anziehen. In der schon leicht ansetzenden Dämmerung geht es stapfenderweise in den oben erwähnten gefährlichen Teil der Wand. Wir waren uns aber schon davor einig, hier nicht sinnlos Energie zu vergeuden, sondern einfach einen guten Rhythmus finden. Das Gelände wird immer steiler, ca. bis 45 Grad, durch die Schneebeschaffenheit brauchen wir aber noch keine Eisgeräte. Beim ersten Sonnenlicht sind wir aus der ärgsten Gefahrenzone herausen, kein Steinchen ist gekommen. Die Wand präsentiert sich von ihrer besten Seite. Endlich erreichen wir die sogenannte „Gurgel“ auf ca. 3300m. Das ist eine markante Engstelle, oberhalb derer die Wand deutlich steiler und vor allem komplett blank wird. Hier wird in der Regel angeseilt. Wer schon unterhalb der Gurgel seilfrei Probleme hat, sollte sich besser für eine Umkehr entscheiden, die hier noch problemlos möglich ist. Das Gute an der Ortler Nordwand ist, dass sie im gefährlicheren Teil technisch einfacher ist und oberhalb der Gurgel, wo die technischen Schwierigkeiten kommen, relativ sicher.
Es erwartet uns jetzt eine Seillänge im kombinierten Gelände, danach kommt sehr steiler und tiefer Schnee. Ich kann nur einen Stand an einem „toten Mann“ mittels Eisgerät machen um Ös nachzusichern. Er wiederum kommt in der nächsten Länge bis zum Blankeis und wir haben endlich wieder eine zuverlässige Sicherung mittels Eisschraube.
Anschließend klettern wir einige Seillängen simultan (mittels Rücklaufsperre MicroTraxion), was sehr viel Zeit spart.
Die Steilheit des Eises wechselt immer wieder zwischen 55 und 70 Grad und in der Tat kommen wir auf der „weißen Spur“ ganz rechts am besten voran. Doch auch diese Spur ist manchmal unterbrochen und dann muss man am blanken Eis klettern, was meist das mehrmalige Einschlagen der Eisgeräte erfordert, da es so spröde ist.
Die steilsten Aufschwünge sichern wir normal, die flacheren
Passagen gehen wir gleichzeitig.
Die Wand zieht sich aber schon ordentlich,
letztendlich fängt man auch an die Höhe zu spüren, inzwischen sind wir schon
höher als der Glockner.
Kurz nach Mittag gelangen wir zum Ausstieg am oberen Ortlerplateau, nur 50hm unter dem Gipfel. Schon leicht müde stapfen wir die letzten Meter zum Kreuz, wo wir dann ganz alleine die fantastische Fernsicht genießen.
Wir genehmigen uns eine halbe Stunde Gipfelpause und machen uns dann fertig für die sehr lange und auch nicht ganz einfache Schiabfahrt nach Trafoi.
Zunächst noch unschwierig, geht es mit den Schiern bald
steiler den oberen Ortlerferner hinunter. An einer Stelle müssen wir sogar kurz
abklettern/abseilen. Die Stelle kann von Jahr zu Jahr verschieden sein, heuer
ist sie ziemlich anspruchsvoll und mit Schi nicht befahrbar. Weiter geht es
durch die Trafoier Eisrinne hinunter und vorbei an der Berglhütte. Es liegen
überall Eisbrocken auf der Route, die Reste eines Eisabbruchs vor ein paar
Tagen. So gesehen war die Schiroute fast gefährlicher als die Nordwand…
Durch eine enge Schlucht und eine mühsame Tragepassage durch den Wald erreichen wir nach 2400hm Abfahrt endlich den Parkplatz Heilige Drei Brunnen. Hier haben wir großes Glück, da wir mit einem deutschen Tourengeher-Pärchen wieder nach Sulden zu unserem Auto fahren können.
Bei unserem Auto angekommen werfen wir noch einige Blicke zurück in die Nordwand, froh und dankbar dieses Abenteuer sicher erlebt haben zu dürfen.
Daten:
Höhenmeter: Aufstieg 2100m, Abfahrt 2400m
Schwierigkeit: 70 Grad, M3, SS
Zeit: Auto-Gipfel: 9h30min, Gipfel-Trafoi: 2h